01.01.85 21:09 Alter: 36 yrs

[Ausstellung] 24.01. bis 09.03.1985: Jonathan Borofsky

Rubrik: Ausstellungen, Allgemeine News

 

In dieser Ausstellung zeigen wir 72 Zeichnungen von Jonathan Borofsky aus der Sammlung des Kupferstichkabinetts des Baseler Kunstmuseums. Sie waren Teil einer Wanderausstellung von Basel nach Bonn, Hamburg, Bielefeld, Mannheim und Stockholm. In dem dazu vom Baseler Kunstmuseum herausgegebenen Katalog sind alle Zeichnungen unserer Ausstellung abgebildet; unsere Hängung stimmt mit der Abfolge im Katalog überein bis auf die größeren Formate im Flur, die zeitlich in den Mittelraum gehören.

Ganz selten nur haben die Blätter eine Datierung, dagegen fallen siebenstellige Zahlen auf. Da sie von einiger Wichtigkeit sind, soll ihre Bedeutung hier kurz skizziert werden. Ausführlich schreibt darüber Christian Geelhaar in seinem Katalogbeitrag.

Die Zahlen hängen mit der konzeptuellen Kunst zusammen, mit der sich Borofsky nach seiner Ausbildung beschäftigt. Auf den Zeichnungen "Time Thought" (Katalog Nr. 138 und 139) sind seine Vorstellungen von Zeit und Raum im Universum dargestellt. Diese Überlegungen, nach denen die Zeit eine unendliche, vor- und rückwärtslaufende Linie ist, bestimmt durch die vier Raumdimensionen, wie Borofsky sie versteht, bleiben für ihn bis heute gültig. In dem Buch "Thought Process", das er 1969/70 herausgibt, sind sie zusammengefaßt.

Doch diese jahrelangen gedanklichen Arbeiten halten Borofsky so gefangen ("my thoughts seemed circular"), daß er sich davon durch eine Tätigkeit befreien will. Er beginnt fortlaufende Zahlen niederzuschreiben auf Papierbögen, die er später zu einem Turm stapelt. Dieses Objekt, Counting genannt (Katalog Nr. 140), das er 1973 zum ersten Mal in einer Ausstellung zeigt, ist dokumentierte, sichtbare Zeit.

Im Jahre 1973, er ist inzwischen bei der zweiten Million angekommen, wendet Borofsky sich allmählich von der konzeptionellen Kunst ab und beginnt, sich mit dem zu beschäftigen, was bisher zu kurz gekommen ist. "But there was the other side ... the more emotional, intuitive side - that was crying tobe heard". (Zitat bei Christian Geelhaar, Anm. 29, S. 159). Träume, Wunschvorstellungen, Ängste werden sichtbar gemacht.

Dieser Neubeginn zeigt sich in unseren Zeichnungen, die bis auf die ersten drei, die aus 1962, 1960 und 1965 sind, alle nach 1974 entstanden sind. Auf diesen neuen Arbeiten setzt er jedoch sein Counting fort, Zahlen über 2 Millionen, und verbindet so beide Seiten seiner Arbeit: Gefühlswelt und Gedankenwelt, Intuition und Konzept.

Auch die Zeichnung auf unserer Einladungskarte wird von der Spannung zwischen Rationalität und Irrationalität getragen. Der gehörnte Mann ist für Borofsky, ebenso wie der Mann mit übergroßen Tierohren (Katalog Nr. 30, Nr. 42, Nr. 88) ein "energy feeler", einer, der sich konzentriert offenhält für wesentliche Eindrücke von außen und innen. "Wenn ich besser hören würde, würde mein Geist weniger schwatzen. In meinen Zeichnungen wenigstens habe ich oft die Ohren und die Fühler-Hörner vergrößert." (Zitat bei Dieter Koepplin, Katalog S. 170). In seinen Händen hält der gehörnte Mann eine Art gebogenen Stab, der an seinen Enden jedoch nicht begrenzt ist. Dies versteht Borofsky als ein Teil der unendlichen, vor- und rückwärts sich erstreckenden Zeitlinie im Universum, es ist eine bildhafte Darstellung seiner "time thoughts". Die objektive Zeitlinie wird für einen kurzen Augenblick zu einer subjektiven, in dem sie von der Gestalt und dem dahinter liegenden Kopf erfaßt wird. Rationalität und Irrationalität stimmen überein.

Zu dem eben erwähnten, nur schwer erkennbaren Kopf sagt Borofsky selber: "Ich möchte möglichst wenig daran denken, was jedes Ding bedeuten könnte, um es dann zu zeichnen. Vielmehr will ich den Dingen erlauben, gezeichnet zu werden; und wenn es wirkliche Intuition gibt, dann kommt dabei etwas Sinnvolles heraus, ohne daß ich es im voraus weiß. Diesen Zustand möchte ich pflegen.

Bei der Zeichnung mit dem gehörnten Mann, der einen gebogenen Stab hält, kam mir die Idee von dem dunklen Profilkopf im Hinterrgrund offenbar irgendwann in der Mitte der zeichnerischen Arbeit. Wahrscheinlich bemerkte ich plötzich, daß ich auf der linken Seite eine Form gemacht hatte, die ein Auge sein könnte. Dieser
Ausgangspunkt, d.h. diese hinterher gemachte Interpretation einer bestimmten Form, führte weiter zur Ausbildung des Geflechtes als eine Art von Kopf. Als ich dann aber die Zeichnung einigen Leuten vorlegte, erkannten sie den Kopf meistens nicht. In den beiden Bildern die ich aufgrund der Zeichnung machte, verdeutlichte
ich den Kopf im Hintergrund. Manchmal muß man gewisse Aspekte etwas offensichtlicher ausformen, als man es ursprünglich wollte." (Zitat in dem Beitrag von Dieter Koepplin, Katalog S. 172/173)

"Yeah I thought I wanted to reach a larger audience without prostituting myself, but I wanted to reach people in a common language - words and images." (zitiert im Katalog Anm. 7, S. 176 im Beitrag von Dieter Koepplin).

Ausführliche Deutungen zur Bildsprache und Motiventwicklung werden in den Katalogbeiträgen von Christian Geelhaar und Dieter Koepplin gegeben.

 

Christine Tacke.

 

Biographie

1942 am 24. Dezember in Boston, Massachusetts, geboren als Sohn eines Musikers und einer Malerin.

1951-1957 im Sommer jeweils in Camp Alton, New Hampshire, in der Nähe von Boston (Sport, eine Leidenschaft). Hier entstehen auch Bilder und ein bemaltes Holzobjekt mit aufmontierter Photographie (vgl. Abb. 3). Ab acht Jahren in Boston privater Unterricht in Malerei. Vom zehnten Lebensjahr an bekommt er, zusammen mit seiner Mutter, in seinem Bostoner Elternhaus Malunterricht durch den Emigrenten Albert Alcalay, der einem deutschen Konzentrationslager entronnen ist. Obwohl ihm vier A's vorschweben (Artist, Architekt, Astronom, Archäologe), wünschen seine Eltern eine Ausbildung als Industrial Designer.

1980-1984 Carnegie Malfon University, Pittsburgh. Vom zweiten Schuljahr an etwas weniger lndustrial Design und etwas mehr Malerei sowie Skulptur, oft bemalte Skulptur (Abb. 173). 1984 Abschluss mit dem B.F.A.

1984 während zweier Sommermonate Ecole de Fontainebleu bei Paris; der Bildhauer Etienne Martin kommt zweimal pro Woche, um ein wenig zu unterrichten. Anschliessend kurze Reise nach Florenz und Venedig (Biennale: Chamberlain machte besonderen Eindruck; die Amerikaner zeigten auch Oldenburg, Dine, Rauschenberg, Johns, Stelle, Noland).

1984-1988 Yale School of Art and Architecture, New Haven, wohin auch einmal Claes Oldenburg zu einem Vortrag kommt. 1986 M.F.A.

1988-1977 New York. Etwa fünfmal das Atelier wechselnd. Ausstellungen seit 1973 (siehe den Beitrag von Christian Geelhart mit Anm. 23), seit 1975 in der Paula Cooper Gallery in New York (Abb. 143, 151, 152, 159, 180, 169) und an anderen Orten (in Europa zuerst 1978 in Groningen, 1979 in lnK in Zürich und 1980 in Venedig an der Biennale, dann 1981 u.a. in Basel und London: Abb. 170). 1989-1977 Lehrtätigkeit an der School of Visual Arts in New York. 1975 Gastlehrer am Art Institute in Chicaco.

seit 1977 Los Angeles, wo er 1977-1980 am California Institute of the Art lehrt (vgl. Anm. 8 zum Vorwort). Als er aufgrund eines sechsmonatigen Lehrauftreges hinzog, dachte er, es werde ein kurzer Aufenthalt sein. Wahrscheinlich lebe er weiterhin in Venice/ Los Angeles, weil er sich hier immer noch als Besucher fühle.
Wohnung und Atelier liegen ein paar Schritte vom Ozean entfernt.

 

Zur Bibliographie

Die wichtigsten Publikationen sind in den Anmerkungen der oben stehenden Aufsätze zitiert und, zusammen mit den Ausstellungen, breit aufgeführt in dem Heft Jonathan Borofsky: Dreams 1973-81, Institute of Contemporary Art London und Kunsthalle Basel 1981, mit einem Aufsatz von Joan Simon. Ihr Interview mit Borofsky (Art in America, Nov. 1981, S. 157-167) ist die wichtigste bisherige Veröffentlichung neben dem frühen Aufsatz von Lucy R. Lippard (Artforum 13. Nov. 1974, S. 62-63) und den Artikeln von Mark Rosenthal und Michael R. Klein (siehe Anmerkungen 17 und 37 zum Beitrag von D. Koepplin in diesem Heft).

Neuere Ausstellungskataloge:
Amerikanische Zeichnungen der Siebziger Jahre (Alfred Kren), Wanderausstellung
1981/82 (Louisiana, Kunsthalle, Basel, Lenbachhaus München, W. Hack-Museum Ludwigshafen)
New York on Paper (Bernica Rose), The Museum of Modern Art New York 1982 (siehe Anm. 2 zum Vorwort oben)
Zeitgeist (Christos M. Joachimides, Normen Rosenthal). Martin-Gropius-Bau Berlin 1982/83
New York Now (Carl Haenlein), Kestner-Gesellschaft Hannover 1982
1983 Biennal Exhibition, Whitney Museum of American Art (vgl. Abb. 171)
Beck to the USA (Klaus Honnef), Kunstmuseum Luzern und Rheinisches Landesmuseum Bonn 1983